Lebenschronik 1813 - 1836

Wesselburen 1813 - 1835, Hamburg 1835 / 36

18. März 1813

Christian Friedrich Hebbel wird als Sohn des Maurers Claus Friedrich Hebbel und Antje Margaretha geb. Schubart in Wesselburen geboren.

Vgl. Stammtafeln der Familie Hebbel und Schubart, in: Der junge Hebbel, 1f.

Wesselburen ist an und für sich als der Mittelpunct von elf bis zwölf wohlhabenden Dörfern nach den Verhältnissen des Landes nicht gar zu unansehnlich; es ist der Sitz der Kirchspielvogtei und der Kirchspielschreiberei so wie des aus zwei Predigern bestehenden geistlichen Ministeriums und hält überdieß, alljährlich, wie es im Kalender heißt, zwei Pferde-Vieh- und Kram-Märkte, die fleißig von Käufern und Verkäufern besucht werden. Die Kirche, für den untergeordneten Flecken überraschend, ja ungebührlich groß, liegt etwas erhöht und die Straßen sind in Kreuzes- oder vielmehr Stern-Form um sie herum gebaut, so daß man keine betreten kann, die nicht zum Hause des Herrn führte. Der geräumige Kirchhof aber, der längst nicht mehr zu Begräbnissen benutzt wird, ist zu allen Jahreszeiten belebt, weil sich dort nach uraltem Brauch aus der ganzen Umgegend die Schnitter, Mäher, Drescher, Pflugknechte u.s.w. versammeln, die Arbeit suchen.

(Notizen zur Biographie)



20. März 1815

Geburt von Hebbels jüngerem Bruder Johann. † 16. 11. 1888 in Wesselburen.

Vgl. zum Verhältnis der Brüder: Monika Ritzer: Bruderträume: Das Individuationsmodell in Hebbels Märchen Die einsamen Kinder. In: HJb 2001, 31–55. – Hebbels Persönlichkeit 1, 476f.

Mein Vater besaß zur Zeit meiner Geburt ein kleines Haus, an das ein Gärtchen stieß, in welchem sich einige Fruchtbäume, namentlich ein sehr ergiebiger Birnbaum, befanden. In dem Hause waren drei Wohnungen, deren freundlichste und geräumigste wir einnahmen; ihr Hauptvorzug bestand darin, daß sie gegen die Sonnen-Seite lag. Die anderen beiden wurden vermiethet; die uns gegenüberliegende war von dem alten Mauermann Claus Ohl nebst seiner kleinen krummen Frau bewohnt, und die dritte, zu der ein Hinter-Eingang durch den Garten führte, von einer Tagelöhner-Familie. Die Miethsleute wechselten nie, und für uns Kinder gehörten sie mit zum Hause, wie Vater und Mutter, von denen sie sich auch, was die liebreiche Beschäftigung mit uns anlangte, kaum unterschieden.

(Aufzeichnungen aus meinem Leben, W 8, 80f.)


 

1817

In meinem vierten Jahre wurde ich in eine Klippschule gebracht. Eine alte Jungfer, Susanna mit Namen, hoch und männerhaft von Wuchs, mit freundlichen blauen Augen, die wie Lichter aus einem grau-blassen Gesicht hervorschimmerten, stand ihr vor. Wir Kinder wurden in dem geräumigen Saal, der zur Schulstube diente und ziemlich finster war, an den Wänden herum gepflanzt, die Knaben auf der einen Seite, die Mädchen auf der anderen; Susannas Tisch, mit Schulbüchern beladen, stand in der Mitte, und sie selbst saß, ihre weiße thönerne Pfeife im Munde und eine Tasse Thee vor sich, in einem Respect einflößenden urväterlichen Lehnstuhl dahinter.

(Aufzeichnungen aus meinem Leben, W 8, 88)


 

1819

Die Familie gerät in finanzielle Schwierigkeiten und muß das Haus in der Norderstraße (heute Hebbelstraße 3) verkaufen. Für Hebbel wird der soziale Abstieg zu einem traumatischen Erlebnis:

An und für sich schaut der Käthner auf den Häuerling herab, wie der Bauer und der reiche Bürger auf ihn, und eben so wird mit einem gewissen Respect wieder zu ihm hinauf geschaut. Er ist des ersten Grußes so sicher, als ob er einen Wechsel darüber in Händen hätte und ihn durch die Gerichte eintreiben könnte; kann er sich aber auf seiner Höhe nicht behaupten, so geht es ihm, wie jeder Größe, die zu Falle kommt: die Unteren rächen sich dafür an ihm, daß er sie einst überragt hat. Die Kinder richten sich in allen diesen Stücken nach den Eltern, und so hatte ich die Ehre der Erhebung, aber auch die Schmach des Sturzes mit meinem Vater zu theilen. (...) Zunächst wurden meine Eltern feierlich als „Hungerleider“ eingekleidet, denn es ist characteristisch an den geringen Leuten, daß sie das Sprichwort: Armuth sei keine Schande! zwar erfunden haben, aber keineswegs darnach handeln. (...) Dann fing man an, auf uns Kinder zu hacken. Die alten Spielkameraden zogen sich zurück oder ließen uns den eingetretenen Unterschied wenigstens empfinden; die neuen hänselten uns und zeigten sich widerwärtig, wo sie konnten, ja, die „Pflegehaus-Jungen“ drängten sich heran.

(Aufzeichnungen aus meinem Leben, W 8, 113–115)

Ich kenne den furchtbaren Abgrund [der Armut], den Sie mir enthüllen, ich weiß, welch eine Un-Summe menschlichen Elends ihn erfüllt. Auch schaue ich nicht etwa aus der Vogel-Perspective auf ihn herab, ich bin schon von Kindheit auf mit ihm vertraut, denn wenn meine Eltern auch nicht gerade darin lagen, so kletterten sie doch am Rande herum und hielten sich nur mühsam mit blutigen Nägeln fest.

(An Sigmund Engländer, 27. Januar 1863, WAB 4, 577)


Im selben Jahr 1819 wird das Schulwesen in Schleswig-Holstein reformiert, wovon auch Hebbel unmittelbar profitiert:

Auch Wesselburen erhielt nämlich seine Elementarschule, und an diese wurde ein Mann als Lehrer gewählt, dessen Namen ich nicht ohne ein Gefühl der tiefsten Dankbarkeit niederschreiben kann, weil er trotz seiner bescheidenen Stellung einen unermeßlichen Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hat; er hieß Franz Christian Dethlefsen und kam aus dem benachbarten Eiderstedt ...

(Aufzeichnungen aus meinem Leben, W 8, 107)

„Niemand als der alte Dethlefsen“, sagte der Dichter häufig, „hat mir die grammatikalische Gewissenhaftigkeit eingepflanzt, die Sorgfalt im Gebrauche des Worts als unzerstörbares Fundament in mir gelegt!“

(Biographie 1, 46f.)

geburtshaus
Geburtshaus in der damaligen Norderstraße
(Gemälde von Willi Graba, Hebbel-Museum)


 

10. (oder 18.) November 1827

Tod des Vaters

Als mein Vater am Sonnabend, Abends um 6 Uhr, den 11 Nov. 1827, nachdem ich ihn am Freitag zuvor noch geärgert hatte, im Sterben lag, da fleht’ ich krampfhaft: nur noch 8 Tage, Gott; es war, wie ein plötzliches Erfassen der unendlichen Kräfte, ich kann’s nur mit dem konvulsivischen Ergreifen eines Menschen am Arm, der in irgend einem ungeheuren Fall, Hülfe oder Rettung bringen kann, vergleichen. Mein Vater erholte sich sogleich; am nächstfolgenden Sonnabend, Abends um 6 Uhr, starb er!

(T 483, Dezember 1836)

Vgl. Wilhelm Meyer-Voigtländer: Der Vater Friedrich Hebbels. In: HJb 1959, 134–147.
Zur Bedeutung des Vaters für das Werk Hebbels vgl. Hargen Thomsen: Patriarchalische Gewalt als Grundkonflikt Hebbelscher Tragik. In: „Alles Leben ist Raub“, 15–26.


Hebbel kommt in das Haus des Kirchspielvogts Johann Jacob Mohr (1798–1872), zunächst als Laufbursche, später als Schreiber, und behält diese Position bis zum Ende seines Wesselburener Aufenthaltes bei.

... so habe ich, dem Kirchspielvogt Mohr gegenüber, Ursache, nicht zum Haß, aber zur bitteren Geringschätzung auf alle Zeiten. Woher kommt mein schüchternes, verlegenes Wesen, als daher, daß dieser Mensch mir in der Lebensperiode, wo man sich geselliges Benehmen erwerben muß, jede Gelegenheit dazu nicht allein abschnitt, sondern mich dadurch, daß er mich mit Kutscher und Stallmagd an Einen und denselben Tisch zwang, aufs Tiefste demüthigte und mir oft im eigentlichsten Verstande das Blut aus den Wangen heraus trieb, wenn jemand kam und mich so antraf. Nie verwinde ich das wieder, nie; und darum habe ich auch nicht das Recht, es zu verzeihen.

(T 2442, Januar 1842)

Vgl. Gustav Biebau: Der Kirchspielvogt Mohr. In: HJb 1965, 168–177. – Gerhard Ranft: Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren. In: HJb 1978, 267–287.


 

11. September 1828

„Der Ditmarser und Eiderstedter Bote“, ein in Friedrichstadt erscheinendes Wochenblatt, veröffentlicht anonym die dreiseitige Erzählung Treue Liebe, die seit den 1950er Jahren als Frühwerk Hebbels angesehen wird. Sie wäre damit seine erste Publikation. Es folgen im gleichen Blatt 1829/30 Der Traum, Antenors Traum und Die beiden Träume. Aber erst das am 11. November 1830 erscheinende „Nachtgemälde“ Holion ist mit Hebbels Namen gezeichnet und ihm damit sicher zuzuschreiben.

Vgl. Wolfgang Liepe: Unbekannte und unerkannte Frühprosen Hebbels. In: HJb 1953, 28–79. – Heinz Stolte hat diese Zuschreibung bestritten, vgl. HJb 1990, 138–141.


 

18. Juni 1829

Im „Ditmarser und Eiderstedter Boten“ erscheint das mit C. F. Hebbel unterzeichnete Gedicht Sehnsucht, das noch stark den Einfluß Schillers zeigt. Hebbel sprach später von Treibhauspflanzen, die es bei erkünstelter Farbe doch nie zu Geruch und Geschmack bringen (Tagebuch 136, Januar 1836). Dieser Erstlingspublikation folgen weitere Gedichte, Aphorismen und Erzählungen, die bis 1832 alle im „Boten“ erscheinen.

Vgl. zum Einfluß Schillers: Wolfgang Wittkowski: Der junge Hebbel. Zur Entstehung und zum Wesen der Tragödie Hebbels. Berlin 1969. – Hartmut Reinhardt: Der Rest ist Resignation. Hebbels Schiller-Rezeption: Nachfolge mit Schwierigkeiten. In: HJb 2000, 39–64.


 

1830

Seinen ersten dramatischen Versuch Mirandola (W 5, 3–30) versteckt Hebbel zwischen den Akten in seiner Schreiberstube, wo er erst nach seinem Tod wiederaufgefunden wird.


 

9. August 1832

Ein Brief an den damals berühmten Balladendichter Ludwig Uhland (1787–1862) steht in der Mitte einer Reihe mehr oder weniger realistischer Versuche Hebbels, aus Wesselburen wegzukommen. Auf seine Bitte, ihm eine Stelle in Stuttgart zu vermitteln, antwortet Uhland freundlich, aber abschlägig. Dennoch bleibt er für Hebbel ein Vorbild, und noch seine Gedichtausgabe von 1857 ist Dem ersten Dichter der Gegenwart Ludwig Uhland in unwandelbarer Verehrung gewidmet.

Vgl. Hartmut Fröschle: Hebbels Verhältnis zu Uhland. In: HSR 5. Wien 1995, 243–258.


 

18. August 1832

Der erste Brief der Hamburger Schriftstellerin Amalia Schoppe (1791–1858) an Hebbel als Antwort auf dessen Einsendung. Seine Gedichte und Erzählungen erscheinen nun in ihren Zeitschriften „Neue Pariser Modeblätter“ und „Iduna“.

Ihre Lieder erfreuen mich unendlich: ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie werth Sie mir durch dieselben geworden sind! Ja, doppelt theuer sind diese Lieder mir, da sie von einem werthen Landsmann ausgehen; ich selbst bin nämlich eine Fehmaranerin, folglich müssen Sie mir schon erlauben, Sie als solchen zu begrüßen. Es regt sich viel Poesie unter unserm Volke, wovon ich oft Beweise erhalte, und Gott erhalte uns die! Prosa giebt’s jetzt genug in der Welt und die armen Musen werden schier von der Politick verdrängt. Aus dem Gedichte „Würde des Volkes“, mir eins der liebsten in der gestrigen werthvollen Sendung, ersehe ich, daß auch Sie ein Liberaler sind; welcher gute, denkende Mensch wäre das aber wohl nicht in unserer Zeit?

(WAB 1, 21)

Vgl. Heinz Stolte: Amalie Schoppe. Ein Beitrag zur Beurteilung ihrer Persönlichkeit. In: HJb 1963, 149–178. – Hargen Thomsen: Amalia Schoppe – Anatomie einer biedermeierlichen Literaturfabrik. In: Nordelbingen 63 (1994), S. 161–204.


 

18. April 1833

Das Gedicht Der Schmetterling (W 6, 196–198) ist das früheste, das Hebbel auch in seiner Gedichtausgabe von 1857 noch gelten läßt. Als Lyriker macht er in dieser Zeit rapide Fortschritte.


 

15. Juni 1834

Proteus (W 6, 253f.; urpsrünglicher Titel: Das höchste Lebendige) ist das wichtigste von Hebbels frühen Weltanschauungsgedichten, das ihn als geistig fertigen Dichter zeigt und bestätigt, was er 1852 an Arnold Ruge schreibt:

Ich habe seit meinem 22sten Jahre, wo ich den gelehrten Weg einschlug und alle bis dahin versäumten Stationen nachholte, nicht eine einzige wirklich neue Idee gewonnen; Alles, was ich schon mehr oder weniger dunkel ahnte, ist in mir nur weiter entwickelt und links und rechts bestätigt oder bestritten worden.

(WAB 2, 549)

[Der Dichter] ist einfach der Proteus, der den Honig aller Daseyns-Formen einsaugt (allerdings nur, um ihn wieder von sich zu geben) der aber in keiner für immer eingefangen wird.

(An Luck, 16. Oktober 1860, WAB 4, 71)


 

Juli 1834

Amalia Schoppes Bemühungen um Hebbels Weiterkommen beginnen endlich Früchte zu tragen:

Theuerer Hebbel!
Mein Herz ist Ihnen in diesem Augenblick so nahe, daß ich es mit der Feder auch sein muß. Eben war Bürgermeister Möller, ein Fahmeraner (also Landsmann) hier; er steht in Tönningen und hat durch Consul Lexow, dem mein Justizrath Albrecht, Postmeister hier, auf meine Bitte, von Ihnen und Ihren Talenten geschrieben hat, schon von Ihnen gehört. Man will zusammentreten und für Sie thun, was Sie glücklich machen wird: Sie sollen studiren! Möller hat mir seinen Handschlag darauf gegeben, daß er Alles aufbieten will, Ihnen zu diesem Ziele, in Verbindung mit Andern behilflich zu sein! Ich bin fast außer mir vor Freude! Dies ist radicale Hilfe, alles Andere wäre Stückwerk gewesen. (...) Es haben sich noch andere bereit erklärt, thätig für Sie zu sein – kurz es wird, es muß gehen!

(WAB 1, 36)
Möller, Bertha Jenisch (spätere Gräfin Redern), Wilhelm Hocker und die Schoppe selbst stiften 150 Taler (oder 450 Hamburger Courantmark), die es Hebbel ermöglichen sollen, am Johanneum in Hamburg seine Schulbildung zu vollenden und später zu studieren.

Vgl. zu Hocker: Heinz Stolte: Wilhelm Hocker, Dichter und Rebell aus dem hamburgischen Vormärz. In: HJb 1977, 9–53.


 

7. Oktober 1834

Zur Hochzeit seines Prinzipals Mohr steuert Hebbel ein Gedicht bei und organisiert einen Fackelzug.

Es sollten aber zugleich Lieder gesungen, gedichtet und überreicht, es sollte der Fackelzug geordnet werden. Der poetische Teil fiel Hebbel zu, während der nachmalige Organist Wacker den gesanglichen übernahm. Hebbel verlangte von dem musikalischen Dirigenten nur die Angabe des Versmaßes und zwei Stunden später hatte er seine poetischen Produkte fix und fertig abgeliefert. Das eine wurde vor dem Hochzeitshause unter Instrumentalbegleitung gesungen und dem jungen Paare überreicht, das andere bei dem Verbrennen der Fackeln lustig abgeorgelt. Als aber beim Überreichen des Hochzeitskarmens die Leiter des Fackelzuges und die besonders wirksamen Mitglieder dringend und wiederholt aufgefordert wurden, nunmehr das Fest bis ans Ende verschönern zu helfen, da war Hebbel zum Mitgehen in das Hochzeitshaus auf keinerlei Art zu bewegen.

(Hebbels Persönlichkeit 1, 25)


 

1834/35

Der um sechs Jahre jüngere Klaus Groth (1819–1899), späterer Dichter des Quickborn, zu der Zeit aber Schreiber wie Hebbel selbst, berichtet lange nach dessen Tod, wie er dem bewunderten Landsmann in Heide begegnete:

Mich bemerkte Hebbel wohl nicht, ich war klein und gänzlich knabenhaft. Ich hielt mich schon damals bewundernd in der Ferne, obgleich er erst nur wenige lyrische Gedichte ins Modeblatt der Amalie Schoppe hatte rücken lassen. Er war schlank gebaut, doch fleischig, beinahe üppig, mädchenhaft, eine große bewegliche Gestalt mit blauen Augen, blondem Haar. So war auch seine Stimme weich und biegsam wie seine Bewegungen. Er stand mit mehreren jungen Freunden, Schreibern bei Beamten wie er selber, vor einem Bücherbrett, das er mit raschen Blicken musterte. Einige Äußerungen, die er über Bücher machte, welche er herabnahm und oberflächlich durchblätterte, klingen mir in der Erinnerung etwas selbstbewußt. Ich sah später nach, es waren juristische Werke; damit also beschäftigte sich der Dichter, waren meine Schlüsse. Diese seine Freunde blickten offenbar mit Respekt zu ihm hinauf, gemengt vielleicht mit etwas Mißtrauen in sein Tun und Können. Ich selbst war ganz Ehrfurcht, seine Erscheinung war mir eine durchaus geniale. Vielleicht hat niemals jemand wieder mit dem ungemischten Gefühle reiner Bewunderung persönlich zu ihm aufgeblickt.

(Hebbels Persönlichkeit 1, 37f.)


 

14. Februar 1835

Hebbel verläßt Wesselburen und siedelt nach Hamburg über.

Das Vaterland ist wie ein Freund; er hat freilich manchen Fehler, für die er eine Tugend haben könnte, und wenn man bei ihm ist, ärgert man sich eben so viel, als man sich freut; doch, wenn es nun zum Scheiden geht, so fühlt man wohl, daß man ihn nirgends besser finden wird, und steht still und weint!

(An Kirchspielschreiber Voß, 19. März 1836, WAB 1, 77)


 

22. März 1835

In dem Gedicht Geburtsnacht-Traum (W 6, 255–258) beschreibt der Dichter, wie ihn im Traum seine Ahnen besuchen; es ist poetischer Abschied von Wesselburen und zugleich Versicherung seiner Herkunft.


 

23. März 1835

Beginn des Tagebuchs:

Ich fange dieses Heft nicht allein meinen künftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß sein kann, daß ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein und diejenigen Töne, welche mein Herz angiebt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten, aufbewahren. Der Mensch ist anders als ein Instrument, bei welchem alle Töne in ewigem Kreislauf, wenn auch in den seltsamsten Kombinationen, wiederkehren; das Gefühl, welches in seiner Brust einmal verklingt, ist für immer verklungen; ein gleicher Sonnenstrahl erzeugt in der psychischen nie, wie in der physischen, dieselben Blumen. So wird jede Stunde zur abgeschlossenen Welt, die ihren großen oder kleinen Anfang, ihr langweiliges Mittelstück und ihr ersehntes oder gefürchtetes Ende hat. Und wer kann gleichgültig so manche tausend Welten in sich versinken sehen und wünscht nicht, wenigstens das Göttliche, sei es Wonne oder Schmerz, welches sich durch sie hinzog, zu retten? Darum kann ich es immer entschuldigen, wenn ich täglich einige Minuten auf dieses Heft verwende.

Hebbel führt das Tagebuch von 1835 bis 1863; die letzte Eintragung schreibt er sieben Wochen vor seinem Tod. In der heute allgemein gültigen Zählung werden 6176 Einträge aufgeführt. „Hätte Hebbel nichts anderes hinterlassen als sie“, schrieb der Literaturhistoriker Ernst Alker 1950 über die Tagebücher, „er wäre doch ein Unsterblicher geworden.“

Vgl. Joachim Müller. Zu Struktur und Funktion von Hebbels Tagebüchern. In: Hebbel in neuer Sicht, 109–122. – Peter Michelsen: Friedrich Hebbels Tagebücher. Eine Analyse. Göttingen 1966. – Günter Häntzschel (Hg.): Studien zu Hebbels Tagebüchern. München 1994.


 

6. Mai 1835

Erste Erwähnung Elise Lensings (14. 10. 1804–18. 11. 1854) im Tagebuch, nachdem er seit dem 1. April bei ihrem Stiefvater Ziese auf dem Stadtdeich zur Miete gewohnt hatte:

Am gestrigen Tage habe ich Elisens Haus wieder verlassen. Ich habe wohl Ursache, den 6 Wochen, die ich bei ihr verlebt habe, ein kleines Denkmal zu setzen, denn so wie mir die Güte gleich beim Eintritt entgegen kam, habe ich die Liebe mit fort genommen. Das Mädchen hängt unendlich an mir; wenn meine künftige Frau die Hälfte für mich empfindet, so bin ich zufrieden.

(T 31)

Vgl. zu Elise Lensing: Albrecht Janssen: Die Frauen rings um Friedrich Hebbel. Berlin/Leipzig 1919, S. 53–84. – Wilhelm Rutz: Friedrich Hebbel und Elise Lensing. Ein Kampf um Leben und Liebe. München 1922. – Detlef Cölln: Friedrich Hebbel und Elise Lensing, besonders der Ausgang dieses Verhältnisses. In: HJb 1951, 74–96 (mit Abb. des Grabsteins). – Heinz Stolte: Elise Lensing als Briefschreiberin. Bildnis einer Bildnislosen. In: HJb 1966, 9–31. – Hebbels Persönlichkeit 1, 495–498, 548, 549–554.
Romanhafte Darstellungen: Waldemar Augustiny: Elise und Christine. Die beiden Frauen im Leben Friedrich Hebbels. Heilbronn 1971. Neuausgabe Heide 1986. – Sibylle Knauss: Ach Elise oder Lieben ist ein einsames Geschäft. Roman. Hamburg 1979.


 

14. Mai 1835

Hebbel tritt dem „Wissenschaftlichen Verein von 1817“ bei, in dem sich Primaner des Johanneums treffen und gegenseitig Vorträge zu historischen, philosophischen und literarischen Themen vorlesen. Da Hebbel seinen Mitschülern sowohl geistig als auch an Jahren voraus ist, dominiert er den Verein bald. Am


 

28. Juli 1835

hält er hier seinen Essay Über Theodor Körner und Heinrich von Kleist (W 9, 31–59), in dem er – gegen die damalige allgemeine Auffassung sowie auch gegen die Meinung seiner Mitschüler – die Bedeutung Kleists gegenüber dem überschätzten Körner hervorhebt:

Heinrich von Kleist war, nach Göthe, der größte Dramatiker, den wir jemals gehabt haben und schon ist er seit 1811 begraben und noch kennen ihn nur Wenige seines Volks, während Theodor Körner, dieser elende Strohwisch, über den ein Wort sagen, zu viel sagen heißt, noch immer für ein Püppchen gilt, aus welchem ein Herkules hätte werden können.

(An Jakob Franz, 22. Mai 1836, WAB 1, 87)


 

1. August 1835

Meine erste Erzählung: Zitterlein, angef: d. 27. Juny, beendigt d. 1. Aug:
(T 87) Gemeint ist Barbier Zitterlein (W 8, 33–62), die 1836 in der Braunschweiger „Mitternachtszeitung für gebildete Stände“ veröffentlicht wurde. Auch die anekdotische Erzählung Pauls merkwürdigste Nacht (W 8, 237–244; der ursprüngliche Titel Johann deutet auf Hebbels Bruder als Vorbild des komischen Helden) dürfte in dieser Zeit entstanden sein.


 

Februar 1836

hält Hebbel sich in Wesselburen auf, um seine Mutter zu besuchen. Es bleibt der letzte Aufenthalt in der Heimat und das letztemal, daß er seine Mutter sieht.

An einem kalten Wintertage sitze ich in der Stube meiner Mutter, die in diesem Augenblick – es ist 9 Uhr morgens – das Kaffeegeschirr vom Tisch nimmt, um mir Platz zum Schreiben zu machen. (...) Meine Reise ging sehr gut von statten; in 6 Stunden kamen wir mit unserm Ever von Altona nach Brunsbüttel, in einem Tage marschierten Alberti und ich von Brunsbüttel nach Wesselburen. Der Herzlichkeit, mit welcher ich hier von allen Seiten empfangen wurde, glich nur diejenige, mit welcher ich Allem, was ein Recht auf meine Neigung hatte, entgegen kam; ich lebe für jetzt so heiter, so anschließend und gesellig, als ob ich ewig hier leben sollte und dennoch erwacht besonders heute morgen in mir jene innere Unruhe, die Du kennst und die, wie ein Sturmvogel, mir das Ende der glücklichen Tage in Ditmarschen voraussagt und mich bewegt, mein Schiff segelfertig zu machen.

(An Elise Lensing, Februar 1836, WAB 1, 68f.)

Dies ist zugleich der erste Brief an Elise Lensing, dem in den nächsten zehn Jahren noch 90 weitere, teilweise außerordentlich umfangreiche folgen werden, in denen er auf beispiellos intensive Weise seine gesamten inneren und äußeren Erlebnisse darlegt.


 

27. März 1836

reist Hebbel, zusammen mir drei Mitschülern des Johanneums, aus Hamburg ab.


 

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Die menschliche Gesellschaft, als Ganzes, als Societät, betrachtet, ist völlig so schlecht, wie ihr schlechtestes Individuum. Ihre Gesetze und Einrichtungen sind, was Mord, Raub und Todschlag des Einzelnen. Fürchterlich, aber wahr!

Tagebuch, Juli 1840